Ratgeber
Rechner
Vergleiche

Wie kannst du nur? – Moral an der Börse

Immer weniger Menschen wollen in „schmutzige“ Aktien investieren. Doch muss wirklich ein schlechtes Gewissen haben, wer Rüstung, Schnaps und Ölmultis im Depot hat?

Das schlechte Gewissen ist ein Kassenschlager. Appelliert ein Unternehmen an die Moral seiner Kunden, findet es mittlerweile verlässlich Abnehmer, wurde sich in der Geschichte der Menschheit doch selten so viel geschämt wie heute: Flugscham, Konsumscham und sogar Kinderscham zirkulieren inzwischen als feste Begriffe durch die Medien. Das schlechte Gewissen ist zum Dauerbrenner mutiert – und dabei längst auch in die Sphären der Finanzwelt vorgedrungen.

So gut wie alle großen Fondsanbieter und Investmenthäuser führen inzwischen ethische Öko-Fonds im Programm, die versprechen, schmutzige Aktien auszuschließen. So sollen Anleger Rendite machen können, ohne der Umwelt, dem Klima oder den eigenen Mitmenschen zu schaden. Doch tut das überhaupt, wer verrufene Unternehmen in seinem Depot versammelt? Müssen sich Anleger schuldig fühlen, wenn sie in unappetitliche Branchen investieren? Oder hat ihr Investment ohnehin keinen Einfluss auf den Erfolg eines Unternehmens?

Lasterhafte Aktien lohnten sich zuletzt

Als Investor ist man – zumindest aus Renditesicht – gut beraten, es mit den Worten des verstorbenen Unternehmers John Bogle zu halten. „Suche nicht nach der Nadel im Heuhaufen, kauf den ganzen Heuhaufen“, sagte der Vanguard-Gründer einmal. Doch wer sich dabei eine weiße Weste bewahren will, hat ein Problem: Besagter Heuhaufen enthält längst nicht nur lupenreine Vorzeige-Unternehmen, Windpark-Betreiber und Wasserstoff-Hersteller, sondern auch: Mineralöl-Giganten, Tabakproduzenten, Glücksspiel-Unternehmen und Waffenbauer. Ein klassischer ETF basiert auf einem Index, der seine Positionen nach Marktkapitalisierung oder BIP zusammenstellt, nicht aber nach ethischen Überlegungen. Und so landen auch die Shells, Nestlés und Rheinmetalls dieser Welt darin und drängen Anleger in moralische Zwickmühlen.

Umso mehr, wo sich doch gerade mit den lasterhaften Unternehmen dieser Welt satte Gewinne machen ließen. Die Kurse von Rüstungsfirmen wie Rheinmetall, Lockheed Martin und Hensoldt legten kurz nach dem Angriff auf die Ukraine kräftig zu, die darauffolgende Gaspreiskrise machte Rohstoffproduzenten wie BP, ExxonMobil und Total Energies zu Börsenschlagern. Wer in dieser Zeit gezielt mit Einzelaktien auf Erdöl und Gas, Panzerhaubitzen und Kampfjets setzte, konnte seinen Einsatz unter Umständen vervielfachen. Doch ist das mit dem Gewissen vereinbar?

„Ethik von Investment trennen. Sonst pleite.“

In den Finanzcommunities im Netz ist man sich darüber uneinig. „Leute, die Rüstungsaktien kaufen, verkaufen ihre Seele“, schrieb kurz nach dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 ein Nutzer auf Facebook. Ein anderer fand dagegen: „Die Börse hat mit Moral nicht viel zu tun.“ Auf der Online-Plattform Reddit klagt ein Nutzer über „Bauchschmerzen wegen ETFs auf MSCI World etc.“, denn darin steckten aus seiner Sicht einige Konzerne, deren „Geschäftsmodell und -philosophie […] wirtschaftlich, sozial oder umwelttechnisch gefährlich“ seien. Die Mehrheit der Diskutanten sieht es lockerer: „Solange die Rendite stimmt, läuft’s“, kommentiert ein User. In einer anderen Diskussion läuft es ähnlich: „Ethik von Investment trennen. Sonst pleite“, meint ein Nutzer. Doch so einfach kann es dann auch nicht sein. Oder?

Gut oder böse? Eine Frage des Ermessens

Nähert man sich der Frage, ergibt sich eine erste Schwierigkeit: Die Abertausenden Aktiengesellschaften dieser Welt lassen sich nicht so leicht in Gut und Böse unterteilen. Oder in moralisch vertretbar und verwerflich. Denn eine einhellige Meinung darüber, was eine schmutzige Aktie auszeichnet, existiert nicht, sie kann auch gar nicht existieren, denn die Antwort liegt im persönlichen Ermessen und jeder Aktionär wird seine Grenze woanders ziehen. Während der eine erst vor Streubomben-Fabrikanten Halt macht, wird ein anderer auch Tabak- und Alkoholproduzenten oder Süßwarenhersteller und Fast-Food-Ketten für unmoralisch halten. Ein Dritter vielleicht bereits den bloßen Kauf von Aktien, weil er sich mit dem Gedanken vom „Reichtum durch Nichtstun“ nicht anfreunden kann. Doch darum soll es an dieser Stelle nicht gehen, sondern allein um die Frage: Welchen direkten Effekt hat es, wenn ein Investor die Aktie eines Unternehmens kauft? Zeit, einen rationalen Blick auf die Zusammenhänge zu werfen.

An der Börse wechseln Aktien nur den Besitzer

Wer eine Aktie kauft, erwirbt einen Anteil an dem Unternehmen, das sie einst herausgegeben hat. So weit, so verständlich. Doch spült der besagten Aktiengesellschaft zunächst kein Geld in die Kasse. Zumindest nicht direkt.

Privatanleger, die über ihren Broker in einen ETF investieren oder ein einzelnes Wertpapier kaufen, tun das über die Börse. Damit handeln sie am sogenannten Sekundärmarkt: Die Aktien sind bereits im Umlauf, man kauft sie also nicht dem Unternehmen selbst ab, sondern einem anderen Marktteilnehmer, der sie in diesem Augenblick loswerden will. Man könnte sagen: Die Aktie wechselt dort lediglich den Besitzer. Wer beispielsweise 40€ für eine VW-Aktie ausgibt, zahlt diese nicht an den Autobauer, sondern an einen anderen Anleger. Die Transaktion verändert daher erst einmal nichts an der Bilanz des Unternehmens.

Anders läuft es beim Börsengang (IPO). Ein Unternehmen geht an die Börse, um frisches Kapital zu beschaffen, indem Geld von Investoren eingesammelt wird. Diese Erstausgabe von Aktien findet am Primärmarkt statt und richtet sich in erster Linie an institutionelle Investoren, an Pensionsfonds, Versicherungen und Investmentfonds. Auch Firmen, die bereits an der Börse gelistet sind, können frisches Kapital einsammeln, indem sie neue Aktien am Primärmarkt ausgeben. Man spricht in dem Fall von einer Kapitalerhöhung. Weil die Aktien direkt und nicht über die Börse gekauft werden, haben die Transaktionen sehr wohl Einfluss auf das Unternehmen. Kaufen hingegen Privatanleger eine Aktie, bewirkt es unmittelbar nichts, zumindest mittelbar aber schon einiges.

Prestige, billigere Kredite und Schutz vor Übernahmen

Je stärker die Nachfrage nach einer Aktie im Verhältnis zum Angebot, desto höher steigt ihr Kurs. Und dieser ist für ein Unternehmen vielleicht nicht kriegsentscheidend, unwichtig aber auch nicht.

Ein hoher Kurs kann sinnvoll sein, sollte etwa eine Fusion bevorstehen oder ein Konkurrent eine „feindliche“ Übernahme planen. Dazu verbessert ein hoher Preis die Bonität gegenüber Banken. Je teurer die Aktie, desto billiger gibt es oftmals den Kredit. Nicht unterschätzen sollte man auch die Signalwirkung, die von einem hohen Aktienkurs ausgehen kann. Unternehmen, deren Umsatz aus welchem Grund auch immer gerade stark zugelegt hat und deren Aktie an der Börse einen Rekord nach dem nächsten bricht, ist in der Öffentlichkeit präsenter, was der Marke zugutekommen kann.

Kapitalbeschaffung wird „günstiger“

Möchte die Aktiengesellschaft frisches Geld von Investoren einsammeln, hilft ein hoher Aktienkurs ebenfalls. Je mehr die einzelne Aktie wert ist, desto weniger Anteile muss das Unternehmen schließlich bei einer Neuausgabe abtreten, um auf die gewünschte Summe zu kommen.

Diese Gelegenheit nutzte unter anderem die einst gehypte Computerspiel-Kette Gamestop. Nachdem eine Schar an Kleinanlegern 2021 den Kurs zwischenzeitlich zum Explodieren gebracht hatte, entschied das Unternehmen, neue Anteile auszugeben. Mehr als 1,6 Mrd. USD soll Gamestop Medienberichten zufolge auf diese Weise eingesammelt haben, um das eigene Geschäftsmodell zu sanieren und den Vorstand umzubauen.

Konsumverhalten hat mehr Gewicht

Wer einen Anteil an einem Unternehmen erwirbt, unterstützt dieses also durchaus – wenn auch nicht unmittelbar und – je nach Einsatz – in geringem Maße. Viel entscheidender als der Börsenkurs ist aber, wie viel Gewinn ein Unternehmen in der Realwirtschaft umsetzt, also über den Verkauf seiner Produkte oder Dienstleistungen. Sich einen VW-Tiguan zu kaufen, macht einen weit größeren Unterschied als die Volkswagen-Aktie im Depot. Zugleich lohnt es sich eher, weniger zu heizen oder nur noch Fahrrad zu fahren, statt an der Börse in einen E-Auto-Hersteller zu investieren.

Man kann doch eh nichts ausrichten…?

Gewiss: Der kleine Privatanleger als einzelne Person macht hier keinen großen Unterschied und wird auch nicht das Klima retten durch seinen Verzicht. Doch wäre das eine ziemlich fadenscheinige Rechtfertigung für unethische Börseninvestments. Schließlich müssten wir demnach auch unseren Müll neben den Mülleimer im Park werfen oder nie wieder wählen gehen, weil es ja „ohnehin keinen Unterschied macht“.

Einige Ökonomen warnen wiederum davor, das eigene Wirken über den Aktienmarkt zu überschätzen – und es als Währung zu begreifen, um sich im Alltag von weiterem Engagement freizukaufen. Ein Beispiel: Investiert ein Aktionär an der Börse lediglich in sehr nachhaltige Unternehmen, die sich aktiv für die Rettung des Regenwalds einsetzen, sollte das nicht dazu führen, dass dieser Investor dreimal im Jahr nach Bali fliegt, weil er sein Gewissen bereinigt sieht. Besser wäre die Doppelmoral, wenn dann, im umgekehrten Sinne: An der Börse die ethischen Bedenken über Bord zu werfen und dafür im Alltag aktiv zu werden. Sei es über den Verzicht auf bestimmte Produkte, über Spenden, Nachbarschaftshilfe oder andere Maßnahmen, die die Welt ein Stück weit besser machen.

Können Aktionäre eine schmutzige Firma säubern?

Kann der Besitz anrüchiger Aktien vielleicht sogar Gutes bewirken? Darauf verweist gern, wer sich gegenüber Kritikern verteidigen will. Zum Beispiel, weil so eine Aktie auch Mitbestimmung bedeutet. Jeder Anteil ist ein Stimmrecht, das auch Privatanleger – theoretisch – bei der jährlichen Hauptversammlung nutzen können, um dem Konzernvorstand ihre Meinung zu geigen. Der einzelne Aktionär mit ein oder zwei Aktien im Gepäck wird dabei keinen Ölmulti zur Klimaneutralität zwingen, ein Stimmrechtsvertreter aber schon eher. Sie sprechen für eine große Aktionärsvereinigung, die schon mal bis zu 10.000 Mitglieder zählen und für diese auf der Hauptversammlung auftreten.

„Ich halte die Kuh, solange ich sie melken kann“

Man kann die Beteiligung an lasterhaften Unternehmen auch werten wie ein Aktionär in einem Internetforum: als Mittel zur Umverteilung von oben nach unten: „Wenn zum Beispiel ein Immobilien-Hai horrende Mieten fordert, ist es mir eine Freude, die ausgeschüttete Dividende an Strukturen weiterzugeben, die Menschen kostenlos in Sachen Mietrecht beraten“, schreibt dieser. „Ich halte die Kuh, solange ich sie melken kann. Je unethischer das Unternehmen, desto mehr Spaß habe ich daran.“