Was ist die kalte Progression?

Markus Schmidt-Ott
Markus Schmidt-Ott
Stand: 22. September 2022
Wenn die Inflation hoch ist, rückt das die kalte Progression in den Fokus: Eine schleichende Steuererhöhung, die entsteht, wenn der Steuertarif nicht an die Inflation angepasst wird. Wie das zustande kommt, erklären wir dir in diesem Ratgeber.

💡

Was du wissen solltest
  • Einkommen wird in Deutschland progressiv besteuert. Das bedeutet, dass der Steuersatz steigt, wenn das Einkommen steigt.
  • Steigt das Einkommen nur, um die Inflation auszugleichen, steigt dadurch ebenfalls der Steuersatz. Nach Steuern erhält man dadurch nicht den vollen Inflationsausgleich. Dann spricht man von kalter Progression.
  • Die kalte Progression kann verhindert werden, indem der Steuertarif jedes Jahr an die Inflationsrate angepasst wird.
  • In der Praxis findet alle zwei Jahre eine Anpassung der Steuertarife für die nächsten beiden Jahre an die Inflationsrate statt. Das gleicht die kalte Progression jedoch nicht immer zielgenau aus.

Wie wird Einkommen versteuert?

Die kalte Progression bezieht sich auf die Einkommensteuer. Daher betrachten wir in diesem Artikel ausschließlich die Einkommensteuer. Neben dieser werden vom Einkommen in der Regel Beiträge für die Sozialversicherung und unter Umständen Kirchensteuer und bei hohem Einkommen der Solidaritätszuschlag abgezogen.

Einkommen wird in Deutschland progressiv versteuert. Progressiv bedeutet, dass der Steuersatz mit steigendem Einkommen ebenfalls steigt. Wer mehr verdient, muss einen höheren Prozentsatz des Einkommens versteuern. Eine Person, die brutto beispielsweise 40.000€ pro Jahr verdient, zahlt durchschnittlich 20% Einkommensteuer, während diese bei einem Jahreseinkommen von 500.000€ durchschnittlich 41% beträgt.

Steuerkurve

Um die Steuerprogression besser zu verstehen, schauen wir uns einmal den Verlauf des Steuersatzes an. Hier ist die gestrichelte Linie dieser Grafik relevant:

Kalte Progression Steuerkurve

Wer weniger als 10.347€ (Update: 10.908€ in 2023) pro Jahr verdient, muss keine Einkommensteuern bezahlen. Dieser Betrag wird auch als Grundfreibetrag bezeichnet. Hier beträgt der Grenzsteuersatz null.

Der erste Euro, der über diesem Freibetrag liegt, wird mit 14% besteuert. Verdient man also 10.348€ pro Jahr, muss 1€ mit 14% besteuert werden. Man würde also 14 Cent Einkommensteuer bezahlen. Der darauffolgende Euro Einkommen wird wiederum mit einem leicht höheren Prozentsatz besteuert. So steigt der Steuersatz so lange an, bis ein zusätzlicher Euro oberhalb von 14.926€ mit 23,97% besteuert wird. Anschließend steigt der Steuersatz ein wenig flacher.

Grenzsteuersatz und Durchschnittssteuersatz

Der oben behandelte Steuersatz wird als Grenzsteuersatz bezeichnet. Dieser gibt nicht an, wie viele Steuern insgesamt bezahlt werden. Sondern nur, wie hoch der nächste verdiente Euro besteuert wird. Mit steigendem Einkommen steigt der Grenzsteuersatz immer weniger an, bis er bei 58.596€ flach bleibt. Ab diesem Einkommen befindet man sich im Spitzensteuersatz. 

Ab einem Einkommen von 277.825€ gibt es noch eine weitere Steuerstufe, die sogenannte Reichensteuer. Einkommen, das darüber liegt, wird mit 45% besteuert.

Während der Grenzsteuersatz nur aussagt, wie hoch der nächste verdiente Euro versteuert wird, sagt der Durchschnittssteuersatz (durchgezogene Linie in der Grafik) aus, wie hoch die Steuerlast insgesamt ausfällt.

Angenommen, eine Person verdient 30.000€ brutto pro Jahr. Der Grenzsteuersatz liegt dann etwa bei 30%. Das bedeutet, jedoch nicht, dass das gesamte Einkommen mit 30% versteuert wird. Der Durchschnittssteuersatz liegt nämlich nur bei 16,5%. Es müssen 4.951€ Einkommensteuer an das Finanzamt bezahlt werden.

Der Grenzsteuersatz wiederum ist interessant, wenn man etwa eine Gehaltserhöhung bekommt. Bei einem Grenzsteuersatz von 30% muss nämlich jeder zusätzlich verdiente Euro mit 30% versteuert werden. Erhält man eine Steuererhöhung von 1.000€, kann man grob überschlagen, dass mindestens 30% davon versteuert werden müssen. Wieso mindestens? Weil der Grenzsteuersatz mit jedem neu verdienten Euro steigt.

Kalte Progression erklärt

Steuerprogression bedeutet, dass jede Gehaltserhöhung dazu führt, dass der Steuersatz steigt. Es bleibt also vom Einkommen prozentual weniger zum Leben übrig. Problematisch kann diese Steuerprogression werden, wenn man die Rechnung mit der Inflation macht. Inflation bedeutet, dass die Preise steigen und man sich mit gleichem Gehalt weniger leisten kann. Es ist also folgerichtig, dass das Gehalt regelmäßig an die Inflation angepasst wird. Dann behält man immer die gleiche „Kaufkraft“. Bedeutet, man kann sich gleich viel vom Einkommen leisten.

🚀

Unser Inflationsrechner
Dich interessiert die Inflationsrate oder die zukünftige Kaufkraft? Mit unserem Inflationsrechner kannst du Preissteigerung & mehr berechnen.

Im folgenden Rechenbeispiel zeigen wir dir, wieso die Kaufkraft durch die Steuerprogression dennoch sinken kann:

Im August 2022 lag die Inflationsrate bei 7,9%. Gehen wir also von einem Jahreseinkommen von 30.000€ aus. Die Einkommensteuer beträgt 4.951€, sodass man ein Nettogehalt von 25.049€ erhält.

Wie in der folgenden Tabelle gezeigt, wird das Einkommen nun um die Inflationsrate auf 32.370€ erhöht. Dadurch steigt auch der Steuersatz, sodass netto 26.692€ vom Gehalt übrig bleiben. Das entspricht nur einer Steigerung um 6,6%.

Gehalt bruttoEinkommensteuerGehalt netto
Jahr 130.000€4.951€25.049€
Jahr 232.370€5.678€26.692€
Veränderung p.a.7,9%6,6%

Das bedeutet, dass die Person trotz Inflationsausgleich einen leichten Kaufkraftverlust erleidet: nämlich 1,3%. Diese Differenz behält der Fiskus für sich ein.

Schauen wir uns ein weiteres Beispiel an: Wir gehen wieder von einem Bruttoeinkommen von 30.000€ aus und nehmen an, dass die Inflationsrate pro Jahr 2% beträgt. Das entspricht der durchschnittlichen Inflationsrate der vergangenen Jahre. Steigt das Einkommen jedes Jahr um exakt die Inflationsrate, erreicht man nach 34 Jahren ein Bruttogehalt von 58.820€. Somit würde man nach 34 Jahren mit dem Spitzensteuersatz besteuert werden, obwohl die Kaufkraft immer gleich geblieben ist.

Die kalte Progression ist also eine schleichende Steuererhöhung durch Inflation. Wenn die sogenannten Tarifeckwerte immer gleich bleiben, erhöht sich dadurch die Steuerlast. Die Tarifeckwerte sind die Grenzen, ab denen die Steuerkurve jeweils anders verläuft. Also im wahrsten Sinne die Ecken der gestrichelten Linie in der obigen Grafik.

Wie wird die kalte Progression verhindert?

Die kalte Progression kann verhindert werden, indem die Tarifeckwerte jedes Jahr an die Inflation angepasst werden. Um diese Werte anzupassen, muss die Politik jedes Jahr tätig werden – es gibt dafür keinen Automatismus. Untätigkeit würde also zu einer kontinuierlichen und schleichenden Steuererhöhung führen.

Schauen wir uns mal an, wie sich die Eckwerte seit 2009 verändert haben:

GrundfreibetragNächste TarifstufeSpitzensteuersatz
20097.83413.13952.551
20108.00413.46952.881
20118.00413.46952.881
20128.00413.46952.881
20138.13013.46952.881
20148.35413.46952.881
20158.47213.46952.881
20168.65213.66953.665
20178.82013.76954.057
20189.00013.99654.949
20199.16814.25455.960
20209.40814.53257.051
20219.74414.75357.918
202210.34714.92658.596

In der Tat wurden diese – bis auf in den Jahren 2010 bis 2012 – jedes Jahr angepasst. In der nachfolgenden Tabelle haben wir einmal die Veränderung der Tarifeckwerte mit dem Verbraucherpreisindex verglichen. Der Verbraucherpreisindex ist ein Maß für die Höhe der Verbraucherpreise.

GrundfreibetragNächste TarifstufeSpitzensteuersatzReichensteuerVerbraucherpreisindex
20097.83413.13952.551250.40092,2
202210.34714.92658.596277.825119
Veränderung p.a.2,2%1,0%0,8%0,8%2,0%

Die Veränderung des Verbraucherpreisindexes entspricht der Inflationsrate. Seit 2009 ist dieser durchschnittlich um 2% gestiegen. Zugleich ist der Grundfreibetrag um 2,2% pro Jahr gewachsen, während die anderen Tarifeckwerte um einen geringeren Prozentsatz zugenommen haben.

Um ein genaueres Bild zu erhalten, haben wir die Steuerbelastung noch einmal mit dem Beispiel des Jahreseinkommens von 30.000€ ausgerechnet. Wir nehmen an, dass das Einkommen im Jahr 2009 30.000€ betrug und genau um die Inflationsrate auf 38.665€ gestiegen ist. 

Auch das Nettogehalt ist seitdem um genau 2% gewachsen. Das bedeutet, dass die Tarifeckwerte seit 2009 die Inflation exakt ausgeglichen haben und es keine kalte Progression gegeben hat.

VerbraucherpreisindexGehalt bruttoEinkommensteuerGehalt netto
200992,230.000€6.011€23.989€
202211938.655€7.719€30.936€
Veränderung p.a.2,0%2,00%2,00%

Somit hat die Politik in den vergangenen Jahren offenbar – zumindest für diese Gehaltsgröße – ihre Hausaufgaben gemacht und die kalte Progression erfolgreich verhindert. Jedoch ist auch festzuhalten: Was häufig großzügig als Entlastung kommuniziert wird, ist bisher stets nur eine Inflationsanpassung gewesen.

Kritik an der bisherigen Praxis

Die Bundesbank hat sich in ihrem Monatsbericht vom Juni 2022 der kalten Progression gewidmet. Darin wurde unter anderem untersucht, wie gut die kalte Progression bisher kompensiert wurde. Das Ergebnis: Vor allem in den letzten Jahren wurde die kalte Progression eher unterkompensiert. Dafür wurde sie jedoch in den Jahren davor wiederum überkompensiert, was im Ergebnis – wie oben dargestellt – wiederum neutral ist.

Dass die kalte Progression nicht zielgenau kompensiert wird, liegt an der bisherigen Praxis: Die Bundesregierung erstellt alle 2 Jahre einen Steuerprogressionsbericht, in dem die Auswirkungen durch die kalte Progression quantifiziert werden. Außerdem ist darin ein Vorschlag für Tarifanpassungen der kommenden beiden Jahre enthalten.

Auf Basis der Schätzung der Inflationsrate für das aktuelle Jahr wird dann der Steuertarif für das folgende Jahr angepasst. Und auf Basis der Schätzung für das folgende Jahr wird wiederum der Tarif für das übernächste Jahr festgelegt.

Fällt die tatsächliche Inflationsrate höher aus als erwartet, wird die kalte Progression unterkompensiert und umgekehrt. Die Inflationsrate wird zudem immer um ein Jahr verzögert berücksichtigt.

Daher ist im Monatsbericht der Bundesbank der Vorschlag enthalten, die kalte Progression künftig jährlich auszugleichen, statt alle zwei Jahre.

👉

Steuer-Software-Vergleich
Hier findest du die besten Steuer-Apps für deine Steuererklärung.

Häufig gestellte Fragen

Was versteht man unter der kalten Progression?

Wie entsteht die kalte Progression?

Was kann man gegen die kalte Progression tun?